Wahre Abgründe …
… tun sich auf beim Erörtern der Themen Verlust, Flucht, Vertreibung, Krieg. Ein intensiver und persönlicher Exkurs in die Geschichte und das Schicksal der sogenannten „Sudetendeutschen“ führte hier an diese Stelle, ein Steilgelände im Erzgebirge, auf der Suche nach Fundamenten eines alten Bauernhauses. Seine Bewohner wurden 1945 nach Kriegsende unter Androhung und Anwendung von Gewalt vertrieben, deren Eigentum konfisziert. Die überwiegende Mehrheit der deutschböhmischen Bevölkerung musste damals fliehen und mit leeren Händen an einem anderen Ort den Neuanfang wagen. Es heißt, es waren rund drei Millionen. Ein dunkles Kapitel! Diese herrliche, sommerfreundliche Wiese ist „Neklid“, übersetzt „Unruh“, ein Außenbereich des Ortes Boží Dar, früher Gottesgab, auf 1.028 Meter ü. NN auf dem Gebiet der Tschechischen Republik. Hier geht es steil und tief abwärts durch den Wald hinunter nach St. Joachimsthal, zur Bergstadt Jáchymov. Reste der einstigen Bebauung sind nicht mehr zu finden, auch nicht das gesuchte Fundament – das Gras steht hüfthoch, und die Kreuzottern lauern überall. Hier in der Unruh standen einst sieben Häuser – Familien mit Kindern, Bauernhöfe, Scheunen, Ställe. Keine Elektrizität, dafür Winterwetter von Oktober bis Mai. Nirgendwo Obstbäume – zu hoch, zu kalt! Die Felder und Wiesen wurden mühsam mit Sense und Pflug bestellt. Wie sonst! Raue, unwirtliche Bedingungen, nichts für Empfindliche. Und weil es so steil ist, ist dies heute ein Wintersportzentrum: Das direkt benachbarte Skiareal Klínovec ist seit dem Zusammenschluss mit Neklid Ende 2018 das größte Skizentrum Tschechiens. Hier zu stehen, an dieser Wiese der höchsten Stadt des Landes, war ein zutiefst bewegender Moment. Ein Ort der Abgründe, und zugleich ein Ort überwältigender Freundlichkeit, heute. Gänsehaut im Sommer auf Unruh. Neklid – das heißt jetzt Befriedung und Versöhnung.