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Meisterwerk der Intuition

September 15, 2024

Was würde Brunelleschi wohl sagen, wenn er all die Differentialgleichungen, Finite-Elemente-Auswertungen und grafischen Simulationen von Spannungen, Verformungen und Rissen seiner Kuppel sehen könnte? Er würde staunen und sich vor Schreck womöglich schreiend nebenan in den Arno zu retten versuchen. Aber der ist zu flach zum Abtauchen. Und auch von dort aus steigt „Il Cupulone“, wie die Florentiner ihr Wahrzeichen liebevoll und mit Augenzwinkern nennen, weil es so dominant ist, weithin sichtbar auf. Sie ist in der Tat überragend – man muss sie anstarren, es geht nicht anders, denn sie ist kolossal, zugleich aber auch unaufdringlich elegant. So ungewöhnlich hochbeinig wegen des Tambours. Und dann diese ganz besondere Form. Die Kuppel der Santa Maria del Fiore, des Doms zu Florenz, ist eine oktogonale Spitzbogenkuppel mit gotischem Profil, zum Himmel strebend, zu Gott, dem Schöpfer. Aber erschaffen hat dieses monumentale Meisterwerk der Baukunst Filippo Brunelleschi, ein Goldschmied. Ohne Rechner, ohne Formeln, aus reiner Intuition und natürlichem Gespür für den tiefen Zusammenhang von Form und Funktion. Das Bauingenieurherz hüpft!

Von 1420 bis 1436 errichtete Brunelleschi dieses außergewöhnliche Schalenbauwerk, das an ein aufrecht auf den Tisch geklatschtes Ei erinnert. Er hat der Kathedrale zunächst ein wuchtiges Tambourgeschoss aus Pietra Forte mit acht riesigen Rundfenstern und hierauf eine achteckige Kuppel mit acht Schalensektoren aufgesetzt – ohne Standgerüst! Das Geheimnis, dass dies erfolgreich gelingen konnte – übrigens ohne Unglücke – war die Corda-Blanda-Anordnung des Mauerwerks und die Ziegelsteinanordnung im Fischgrätverband. Beide Bautechniken ergänzen einander in ihrer strukturellen Funktion und sind konstruktive Basis dieses bemerkenswerten Bauwerks. Ihrer geradezu symbiotischen Kombination ist ein idealer Kräftefluss über die Mörtelverbindungen zwischen den Ziegelsteinen zu verdanken.

Zunächst schuf Brunelleschi Bauwerksmodelle und legte deren Auslegung dem Kuppelbau zugrunde – was ziemlich gewagt ist. Heute ist bekannt, dass die Beobachtungen und Erfahrungen bei kleineren Modellen nur mit allergrößter Vorsicht auf das reale Bauwerk übertragbar sind, denn die große, reale Struktur ist weitaus zerbrechlicher als das Modell. Doch damals war die Methode gang und gäbe. Übrigens auch um Ratsherren, Geldgeber und andere Entscheider zu beeindrucken und von der Durchführbarkeit des Vorhabens zu überzeugen. Damals war in Florenz richtig was los, es gab Tumult, und Brunelleschi, der Goldschmied, erfuhr zunächst viel Gegenwind. Doch mit seinem Konzept obsiegte er und schuf ein furioses Opus Magnum zwischen Gotik und Renaissance, das bis heute wirkt.

Der Baumeister hat die Schnittkanten der Schalensegmente als Verstärkungsrippen aus Marmor ausgeführt; die weißen Grate bilden zusammen mit den roten Schalensegmenten das spezielle, unverwechselbare Design der Cupola. Sie ist ein Hingucker! Zigmillionenfach gemalt, beschrieben, fotografiert. Das Bauwunder ist allerdings nicht ungefährdet: Seit Jahrhunderten durchziehen Risse das Mauerwerk der Kuppel. Sie sind im Verlaufe der Zeit immer größer geworden. Wahrscheinlich verursacht die enorme Beanspruchung durch das Eigengewicht diese Risse. Es setzt sich zusammen aus dem Gewicht der Schale, den Rippen und der Last des Laternenaufbaus, der üblicherweise zur Beleuchtung und Belüftung erforderlich ist, und ist die hauptsächliche Belastung der Kuppel. Hinzu kommt der Winddruck als Belastung. Aber darüber gab es zu damaliger Zeit noch keine rechnerischen Überlegungen. Das Verständnis für Kuppelkräfte, Bruchmechanik, Statik, Dynamik und Elastizität gab es vor 600 Jahren noch nicht – erst nach Galilei, Euler, Newton und Bernoulli im 17. Jahrhundert lösten Berechnungen das „Bauchgefühl“ ab. Erst dann ergaben sich Zusammenhänge schwarz auf weiß. Heute wird vermutet, dass die Rissbildung im Tambour begründet ist, diesem gewaltigen dreidimensionalen, festeingespannten Vollwandbalken, der zur Zeit der Errichtung intuitiv nicht vollständig erfasst werden konnte. Dafür fehlten die Begriffe, die Sprache, die Zusammenhänge. Erst in der neueren Zeit können aus dem Kräftgegleichgewicht von Schalen- und Gratelementen Differentialgleichungen generiert und Bauwerkszustände numerisch erfasst werden.

Santa Maria del Fiore und mit ihr die Cupola steht seit 600 Jahren. Das beweist doch, dass Brunelleschis intuitive Schlussfolgerungen nicht unbedingt falsch gewesen sein konnten. Er hat ein Prachtstück, ein Meisterwerk geschaffen, das man immerzu anstarren und fotografieren muss. Alles andere als eine Ruine nach sechs Jahrhunderten! Tausende Besucher wälzen sich Tag für Tag zwischen innerer und äußerere Kalotte hinauf zur marmornen Laterne, um den Ausblick auf die Stadt und die toskanischen Hügel zu genießen. Die ganze Welt kommt nach Florenz, um Il Cupulone und natürlich den Dom zu bestaunen – der übrigens im Inneren bemerkenswert schlicht, fast karg, jedenfalls das ganze Gegenteil von prachtvoll, ausgebildet ist. Askese statt Verschwendung. Die eigentliche Pracht ist in meinen Augen diese Kuppel! Experten haben den kompletten Bauwerkszustand im Blick. Differenzierte moderne Sensorik und adäquate Rechenleistung machen es möglich, dass Kräfteverläufe und Spannungsverteilungen in Echtzeit registriert und analysiert werden. Freilich macht es die moderne Zeit nicht einfach für die Cupola, denn die vom Verkehr verursachten Vibrationen wirken sich negativ auf die Stabilität aus. So sprach man schon von Verkehrsberuhigung im Dombereich. Verkehrsberuhigung? Wenn Brunelleschis sehen könnte, was hier los ist …!